Veröffentlichung von Ulrich Gräler aus Siegen

im Mindener Tageblatt vom 12. September 2012

Der Hiller Stuhl und seine Geschichte

Ein typisches Möbelstück des Drechslerhandwerks in der Minden-Lübbecker Region

VON ULRICH GRÄLER

 

Hille. Im Mindener Land trifft man immer wieder auf den "Hiller Stuhl", der das Produkt der dort ansässigen Landhandwerker war.

Der Hiller Stuhl. | MT-Foto: Gisela Burmester
Der Hiller Stuhl. | MT-Foto: Gisela Burmester

Sehr oft wird er jedoch mit dem "traditionellen norddeutschen Bauernstuhl" verwechselt, dessen Rückenlehne aus drei Querriegeln gebildet wird.


Beide Stuhltypen wurden hierzulande verwendet, doch in den Haushalten rund um Hille war weitgehend das Modell des "Hiller Stuhls" vorrangig in Gebrauch.


Das Drechslerhandwerk auf dem Lande hatte sich nach Einführung der Gewerbefreiheit seit der Mitte des 19. Jahrhunderts im Minden-Ravensberger Raum stark entwickelt, insbesondere als Haushandwerk, wie es noch zu Zeiten der Zünfte üblich war.

Der Hiller Stuhl wird gedrechselt|Foto: pr
Der Hiller Stuhl wird gedrechselt|Foto: pr

Das Drechseln war in diesem Landstrich schon aufgrund der Herstellung von Spinnrädern, mit deren Hilfe die Frauen der Textilwirtschaft ("Bielefelder Leinenindustrie") zuarbeiteten, weit verbreitet. Denn mit Hilfe dieser Spinnräder konnte die heimische Bevölkerung durch die Verarbeitung des Flachses zu Leinengarn, das für die bedeutende Bielefelder Textilindustrie benötigt wurde, lange Zeit ihr spärliches Auskommen aufbessern.

So lag es nahe, das Drechslerhandwerk auch für die Stuhlherstellung zu nutzen. Die Aufzählung der "Hiller Stuhlhersteller" belegt, dass sich in zahlreichen Ortschaften rund um Hille wenigstens ein Drechsler mit der Herstellung dieser Stühle befasste. So hatte jeder Ort in der Regel einen "Stuhlmacher", dessen Absatz sich vornehmlich auch auf die Versorgung der dortigen Bevölkerung beschränkte.

Da dieser Stuhlmacher imstande war, allein durch seine Tätigkeit, die sich zumeist sogar nur auf den Winter beschränkte, die Versorgung der örtlichen Bevölkerung mit Stühlen zu gewährleisten, konnte sich auch kein weiterer Stuhlmacher etablieren.

Im 19. Jahrhundert zählte der "Hiller Stuhl" ebenso wie auch der "traditionelle norddeutsche Bauernstuhl" zur Grundausstattung der einfachen ländlichen Bevölkerung. Aus den Brautschatzverschreibungen der Zeit läßt sich noch heute belegen, dass ein Satz von 2-6 Stühlen zum Inventar einer einfachen bäuerlichen Familie gehörte, ein doppelter Satz von 12 Stühlen gar für wohlhabende oder höherstehende Bauern.

Mit dem wachsenden Wohlstand der ländlichen Bevölkerung nahm dann aber bald auch der Umfang ihrer Einrichtungen zu, so dass neben den reinen Gebrauchsmöbeln nun repräsentative Möbelstücke Einzug in ihre Häuser hielten.

Im Minden-Lübbecker Raum gehörte jedoch auf dem platten Lande der "Hiller Stuhl" noch lange Zeit zum üblichen Wohnrauminventar, vor allem nördlich, aber auch südlich des Wiehengebirges. Denn "Möbel waren Kostbarkeiten, die in der Masse der Bevölkerung keinem Modewandel unterlagen, sondern nach Möglichkeit vererbt wurden."

Erst recht, wenn die Möbel eine regionaltypische Besonderheit darstellten, an der die Bevölkerung länger festhielt als in Regionen, die keine speziellen Möbelfabrikate aus eigener Herstellung aufzuweisen hatte.

Der "Hiller Stuhl" war und ist somit bis heute ein Möbelstück, das sich aufgrund seiner Qualität ganz ohne Werbung, nur durch "Mundpropaganda" zu einer "regionalen Marke" entwickelt hat. Die stabile Ausführung der Stühle führt dazu, dass manches Exemplar bei einer Lebensdauer von mehr als hundert Jahren nichts von seiner Funktionalität eingebüßt hat.

Der "Hiller Stuhl" in Konkurrenz zu den Fabrikstühlen

Ausgehend von seinem Ursprungsort Hille verbreitete sich der Ruf dieses Stuhls in der näheren Umgebung derart stark, dass die Nachfrage ebenfalls stetig zunahm und der Stuhl sich als beliebtes Möbel bei der ländlichen Bevölkerung durchsetzte.

Verständlicherweise führte die vermehrte Nachfrage auch zur Gründung weiterer kleiner Werkstätten, die sich der Herstellung dieses Stuhls widmeten. Im Übrigen war der Stuhl in seiner einfachen Form sehr kostengünstig zu erstehen. Erst im Laufe der Zeit verteuerte er sich aufgrund seiner im Vergleich zur Fabrikware personal- und damit lohnintensiven Fertigung zusehends, so dass die Nachfrage in entsprechendem Ausmaß zurückging.

Mit dem Aufkommen dieser fabrikmäßig hergestellten neuen Stuhlmodelle verringerte sich der Absatz des "Hiller Stuhls" kontinuierlich. Ein veränderter Kundengeschmack, der Modernität in der Form, Bequemlichkeit im Sitzkomfort, aber auch Ansprüche an die Haltbarkeit und die Verträglichkeit der Sitzfläche verlangte, ließ den traditionellen "Hiller Stuhl" gegenüber den Konkurrenzmodellen zunehmend in der Gunst der Käufer zurücktreten.

Unter dem Gesichtspunkt der Zeit- und Kostenersparnis setzten sich die fabrikmäßigen Weiterentwicklungen zunehmend durch. Zudem wurde der "Hiller Stuhl" wegen seines Materials aus Eschenholz bei den bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschenden raumklimatischen Bedingungen in den Häusern häufig ein Opfer von Holzschädlingen wie dem Holzwurm.

In zahlreichen Haushalten fielen diese Stühle deshalb dem Feuer oder dem Müll zum Opfer, so dass der unversehrte "Hiller Stuhl" heute nur noch von Liebhabern alter Möbel genutzt und gepflegt wird.

Erst mit der Nostalgiewelle und der Rückbesinnung auf die eigene Tradition, als auch junge Familien mit Stolz den "Hiller Stuhl" in ihre Einrichtung integrierten, erlebte dieses antiquarische Möbelmodell eine kleine Renaissance. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts gaben allerdings die meisten Drechsler letztendlich ihr Landhandwerk auf, so dass lange Zeit nur noch ein Drechsler (Schrey jun.) in Rahden die Herstellung der "Hiller Stühle" in alter handwerklicher Tradition fortsetzte, bis auch er zu Beginn des 21. Jahrhunderts den Betrieb aufgab. Sämtliche Betriebe des "Hiller Stuhls" wurden zunächst in aus heutiger Sicht sehr kleinen Verhältnissen begründet.

Die Werkstätte, in der die Drechselmaschine bedient und sämtliche weitere Arbeiten erledigt wurden, wies zumeist kaum mehr als 10 qm auf, insbesondere bis zum Ende des Ersten Weltkriegs.

In diesen beengten Räumlichkeiten arbeiteten die Drechsler überwiegend allein als Einmannbetrieb. Lediglich die Ehefrauen, die häufig die Flechtarbeiten ausführten, oder andere Flechterinnen nutzten darüber hinaus den Werkstattraum.

Der älteste bekannte Nachweis für die Herstellung dieser Art der Stühle findet sich in Hille-Hartum und geht auf die dort ansässige Familie Dröge zurück. Der Urgroßvater, Fritz Dröge (Carl-Friedrich), hatte im Jahr 1849 einen kleinen Handwerksbetrieb eingerichtet, in dem er zunächst Spinnräder anfertigte.

Als der Bedarf für diese Geräte zurückging, stellte Dröge seinen Betrieb um und produzierte in seiner Werkstatt fortan "Hiller Stühle". Bis in die 1960er Jahre hielt diese Tradition über vier Generationen an, ehe Friedrich Christian Dröge (1897-1971) die Herstellung der dort vor allem unter der plattdeutschen Bezeichnung "gnernste Steule" bekannten Stühle, die er von seinem Vater Christian Heinrich (1860-1943) und seinem Großvater Christian Heinrich (1832-1906) übernommen hatte, einstellte.

Der plattdeutsche Begriff geht auf den Namen der Hofstelle ("Johann Ernst Dröge") zurück, dessen Vornamen sich zu dem plattdeutschen Begriff "gnernst" ("Janernst") verkürzten.


In Hille-Neuenbaum gründete Friedrich Schekelmann (1844-1929) im Jahr 1866 eine Werkstatt mit zwei von einem "Kanonenofen" beheizten Arbeitsräumen, in denen er die dort vor allem unter der plattdeutschen Bezeichnung "schriousen Huse" bekannten Stühle herstellte.

Sein Sohn, der Tischlermeister Friedrich (Fritz-) Schekelmann, führte die Werkstatt bis nach dem Zweiten Weltkrieg weiter und verrichtete dort sämtliche Holzarbeiten.

Noch bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts führte dessen Tochter Herta in jener Werkstatt die Flechtarbeiten für die Herstellung bzw. Reparatur der Sitzflächen aus.

Stuhlmacher Heini Brockmeyer|Foto: pr
Stuhlmacher Heini Brockmeyer|Foto: pr

Auch Heinrich Brockmeyer (1870-1957) in Hille-Hartum, genannt "Bues Opa", produzierte diese Art der Stühle. Heinrich Brockmeyer, der erst bei der Holzhandlung Scheidemann in Minden gearbeitet hatte, machte sich dann mit einer eigenen Werkstatt selbstständig und führte den gesamten Herstellungsprozess selber aus, von dem Anpflanzen der Eschen bis zu den Drechselarbeiten.

Seine Ehefrau hatte die Stuhlflechtarbeiten ausgeführt, sowohl in Rattan als auch in Binsen.

Nach seinem Tod hatte der Ehemann seiner Enkelin, Kurt Konnerth, die Herstellung der "Hiller Stühle" weitergeführt. Weitere Drechslereibetriebe, die den Hiller Stuhl produzierten, befanden sich in Hille-Holzhausen II (Ohlemeyer), in Minden-Haddenhausen (Lübking), in Rahden (Rohlfing/Schrey), in Rahden-Tielge (Schlüter/Tiemann) und auf der anderen Seite des Wiehengebirges in Hüllhorst-Holsen (Brune).

Der "Hiller Stuhl" als Teil des bäuerlichen Mobiliars gehört zu den sogenannten Pfostenstühlen, deren Verbreitungsgebiet sich über ganz Norddeutschland erstreckt.

Charakteristisch für diesen Pfostenstuhl ist, dass die hinteren Stuhlbeine zugleich den senkrechten Rahmen der Rückenlehne bilden. Den Pfostenstuhl gibt es sowohl in eckiger als auch in gedrechselter Form.

Während die Stühle mit eckigen Pfosten vom Tischler angefertigt werden, sind die so genannten Rundpfostenstühle das Werk des Drechslers. Beide Stuhlarten gehen auf eine jahrhundertealte Tradition zurück, wobei der eckige Pfostenstuhl, für dessen Herstellung keine Drehbank benötigt wurde, älteren Ursprungs zu sein scheint.

Sowohl der Rundpfostenstuhl als auch der Kantholzstuhl lassen sich historisch auf deutsche Möbelformen des Mittelalters oder noch frühere Zeiten zurückführen.

Der älteste in der Region nachweisbare Pfostenstuhl in eckiger Ausführung ist der aus Mennighüffen stammende Spinnstuhl, der laut Inschrift in der Rückenlehne im Jahr 1823 hergestellt wurde und nun im Heimatmuseum in Löhne zu besichtigen ist.

Als weiterer Beleg für die ältere Herkunft dieses Stuhls können die vollständig durchgezapften Stege unterhalb der Sitzfläche dienen. Der "Hiller Stuhl" ist ebenso wie der "traditionelle norddeutsche Bauernstuhl" als Variante des so genannten Rundpfostenstuhls zu zählen.

Diese weisen sämtlich eine vergleichbare Grundkonstruktion unterhalb der Sitzfläche auf, bei der die Stuhlbeine auf jeder Seite mit zumeist zwei Fußstegen verbunden sind. Die verlängerten hinteren Stuhlbeine bilden mit jeweiligen Querkonstruktionen die Rückenlehne. Damit wird ersichtlich, dass die Rückenlehne das herausragende Unterscheidungsmerkmal für den "Hiller Stuhl" darstellt.

Während die Rückenlehne des "traditionellen norddeutschen Bauernstuhls" aus 3-4 horizontal verlaufenden Querstegbrettern gebildet wird und die hinteren Stuhlbeine oberhalb des letzten Querstegs in einem besonders aufwendig gedrechselten Knauf oder einer Kugel mit Spitze auslaufen, enden die hinteren Stuhlbeine beim "Hiller Stuhl" in einem Schulterlehnbrett, das mittels senkrechter Sprossen mit einem tiefer angesetzten Quersteg die Rückenlehne bildet. Neben der besonderen Gestaltung der Rückenlehne sind als weitere markante Unterscheidungsmerkmale des "Hiller (Bauern-)Stuhls" die überwiegende Verwendung von Eschenholz als Material und die Gestaltung der Sitzfläche aus Rattan (Flechtrohr) anzusehen.

Die Bauernstühle in Norddeutschland und im Münsterland dagegen werden seltener aus Esche, häufig aber aus Eiche oder Buche hergestellt und verfügen zumeist über ein Sitzgeflecht aus Binsen.

Die Verwandtschaft des "Hiller Stuhls" zu den in der Regel unter der allgemeinen Bezeichnung "traditioneller norddeutscher Bauernstuhl" geführten Stühle ist unverkennbar.

Diese Rundpfostenstühle mit horizontal verlaufenden Stegbrettern finden sich im gesamten norddeutschen Raum bis hinunter an den Niederrhein ins Grenzgebiet zu den Niederlanden, wo der Ursprung dieses Stuhltyps zu vermuten ist.

Eine besonders enge Typenverwandtschaft des "Hiller Stuhls" besteht aber insbesondere zu den Bauernstühlen des "Alten Landes", und zwar zum "Altländer Stuhl" der Geest. Während der eigentliche "Altländer Stuhl" der Marsch durch seine umfangreich gedrechselten Streben gekennzeichnet ist und damit dem gesteigerten Repräsentationsbedürfnis seiner Besitzer entgegenkommt, zeichnet sich der "Altländer Stuhl" der Geest durch eine ungleich größere Schlichtheit aus.

Ein derartiger Stuhltyp mit seinen vertikalen Sprossen findet sich beispielsweise immer wieder auf den um 1900 entstandenen Porträts der Worpsweder Malerin Paula Modersohn-Becker oder auf dem Gemälde "Gottesdienst im Moor" aus dem Jahr 1895 von Fritz Mackensen.

Die Längsstäbe sind bei diesem Stuhl, wie leicht zu erkennen ist, zusätzlich ornamental gegliedert, beim "Hiller Stuhl" jedoch ganz schlicht gehalten, ohne jede weitere gedrechselte Verzierung. Der gesamte Herstellungsprozess dieser Stühle war ebenfalls auf einen sparsamen Umgang mit dem Material ausgerichtet.

Wegen ihrer schlichten äußeren Form konnten sie deshalb auch niemals zur Repräsentation oder zur eigenen Selbstdarstellung dienen. Sie wurden vielmehr von ihren Besitzern als reine Gebrauchsmöbel angeschafft, die selten als Einzelstücke, sondern zumeist als Teil eines Ensembles aus einfachen Stühlen und Lehnstühlen in die Haushalte gelangten.

Nach wie vor ist diese Art der Stühle in Hille und Umgebung sehr verbreitet und darüber hinaus eine regionaltypische Antiquität, die von ihren Besitzern aus Tradition oder Verbundenheit zur Heimat bzw. wegen ihrer soliden Konstruktion sehr geschätzt wird, da die zahlreichen Experimente im Möbeldesign des 20. Jahrhunderts nicht immer zur Zufriedenheit der Kunden geführt haben.

Möbel gehören schließlich zu den Gebrauchsgegenständen, die "die Chance haben, ihre Zeit zu überdauern, wenn Entwurf und Herstellung überzeugend gelingen und sie die Akzeptanz der Benutzer finden." Wie der "Hiller Stuhl"!

Ulrich Gräler ist Hobbyhistoriker und familiär mit der heimischen Region verbunden.

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Dokument erstellt am 12.09.2012 um 14:30:35 Uhr